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Chaos, Schnee, Gelassenheit – von Marrakesch nach Ouarzazate

Das fu… ipad hat meinen Marrakeschbeitrag gefressen und weder für Geld noch gegen Androhung von Gewalt wieder ausgespuckt. Habe ich meine Gedanken erst mal ausgeschrieben, ist es, als hätte jemand die „Ausschneide – Einfügefunktion“ gedrückt, nur ist nix mehr da zum Einfügen und ich quäle mich verärgert mit der Datenreproduktion des ersten Teils unseres 16-tägigen Landausflugs:

Ohne Navi, ohne Karte, ohne Anke drängele ich das Wägelchen von der City-Mietstation in den hauptstädtischen Freitagsvormittagsverkehr, in eine endlose Kolonne zerbeulter Stadtbusse und Lieferwagen, das Gewirr unzähliger Taxis aller Marken und Baujahre (hier schlägt noch das wahre Herz des MB123!), quäkender Moped-Pickups, Diplomatenkarossen und Eselkarren. Der blubbernde Strom des „süßen Breis“ hat mich aufgenommen. Die zähen Bewegungen umeinander erfolgen gewissermaßen zwischen Tuchfühlung und Körperkontakt, und die Huperei allenthalben ist nur als reflexartiges Lebenssignal zu verstehen. Dieser träge Fluss wird nur durch die anarchischen Füßgänger und Mofafahrer, die immer überraschend von überall auftauchen und ebenso schnell irgendwohin verschwinden, gestört. Ampeln und Hinweisschilder erfüllen eher Dekorationszwecke, die Markierungen der Fahrspuren und Zebrastreifen nimmt man als überflüssige, langweilige Muster auf dem grauen Asphalt wahr. Nach einer guten halben Stunde (für knapp 3 km Luftlinie) steht die Karre ohne neue Kratzer auf unserer Pier. Ich wechsle noch das Shirt.

Die Autobahn nach Marrakesch ist wenig aufregend. Läge nicht das beeindruckende Panorama des Hohen Atlas‘ mit seinen über 4000 m hohen schneebedeckten Gipfeln vor uns, könnte man an die Magdeburger Börde oder das Harzvorland mit Palmen und Zypressen denken. Die Stadttore von Marrakesch saugen die Fahrzeuge und Fuhrwerke aus allen Richtungen wie in einen Trichter ein, verschmelzen sie und pressen ein scheinbar unentwirrbares Knäuel aus Rädern und Beinen, Abgasen und Maschinengedröhn in die Äderchen der Stadt. Das vormittägliche Verkehrsgetümmel Rabats nimmt sich dagegen aus wie ein Pioniernachmittag im Verkehrsgarten auf dem Hof der Mühlwiese. Im Bemühen unserer Herberge im Zentrum der alten Kasbah näher zu kommen, schälen wir uns 5x kreisförmig durch den aberwitzigen Freitagsabendverkehr, bis wir anerkennen, dass gewöhnliche Navigationsprogramme in diesem Einbahn- und Sackgassengewirr hoffnungslos überfordert sein dürfen. Erschöpft, aber unbeschädigt parken wir außerhalb der Stadtmauern und begeben uns per pedes auf die Suche. Obwohl nur noch 50 m entfernt, hätten wir unser Riad (Riads: heute meist zu originellen Gästehäusern umgebaute traditionelle, herrschaftliche Gebäude mit kühlem Innenhof und -garten) ohne die Investition von 2 € in einen wie aus dem Nichts auftauchenden Ortskundigen in der Dunkelheit nicht gefunden. Das Riad erwies sich als Volltreffer. Mit Liebe zum Detail restauriert, geschmackvoll eingerichtete großzügige Räume, große Dachterrasse um den Lichthof mit herrlichem Gebirgsblick, üppiges Frühstück und hübscher unaufdringlicher Service. Die abgeschiedene Ruhe im nach außen fensterlosen Haus wussten wir bereits nach dem ersten Tag im Innenstadtgewühl, dem ununterbrochenen Lärm und Staub und Zweitaktergestank sehr zu schätzen. Für die 2 Stadttage hatten wir uns ein überschaubares „ Touriprogramm“ zurecht gelegt: zwangsläufig Medina mit Bahia- und Badii-Palais, Place Djemaa El Fna, die alte Medersa Ben Youssef, vielleicht noch das Färberviertel, die sehr empfohlene Ausstellung mit alten Berberfotos, die Saadiergräber in der Kasbah und den Jardin Majorelle neben der Villa vom ollen YSL.

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Da wir uns mittlerweile schon etwas Marokko-Altstadt-kampferprobt fühlten, stürzten wir uns beherzt ins Getümmel der Medina und schlugen uns lange Zeit recht wacker, uns immerzu ermahnend, dass im Boot schon genug Dinge rumliegen, die wir nicht brauchen.

Aber nicht umsonst nennt man Marrakesch auch Arnakesch, von franz. arnaquer: jemanden ausnehmen, übers Ohr hauen. Und wir fanden hier unsere Meister.  Klar wissen wir, mit Aufnahme von Blickkontakt oder der Frage nach dem Weg hat man eigentlich schon verloren, und ohne Geld kriegt man nicht mal die Uhrzeit verraten. Nachdem wir auf der Suche nach dem Zugang des Färberviertels zum dritten Mal an derselben Ecke vorbeikamen, nutzte der freundlich blickende Orangenverkäufer unsere Ratlosigkeit und die Gelegenheit und übergab uns uneigennützig und lächelnd  einem zufällig vorüber eilendem Berber-Freund, der jedoch – unter wortreicher Versicherung kein „faux guide“ und nur zur Arbeit, zwar nicht zu den Färbern sondern ins Gerberviertel, unterwegs zu sein. Okay, wenn es sich so fügt, schauen wir eben wie die Kamel- und Ziegenhäute gegerbt werden. Hokuspokus! Fliegender Wechsel an der unscheinbaren Pforte zu den Gerbern in die, frische Minzesträußchen gegen den beißenden Geruch bereithaltenden Hände eines des englischen Kundigen. Wiederum ohne eindeutige Geldforderung, und uns war um so klarer: das wird teuer. Nach 10 Minuten Fotostopps vor den wahrlich übelriechenden Bottichen, deren Inhalt ich mich weigere zu beschreiben, öffnet sich wie von Zauberhand ein Türchen, und wir werden erwartet mit frischen thė a la menthe und dürfen nur mal schauen, nix kaufen, nur schauen, was die Berberkooperativen in den Bergen so herstellen. In mehreren Räumen häufen sich feinste Lederwaren, Unmengen von geknüpften, gewebten und bestickten Teppichen, bunte Keramik und Berbersilberschmuck. Die Taschen und Jacken waren wirklich sehr schön und von überzeugender Qualität. Der Oberverkäufer beherrschte sein Handwerk, oder besser das Handelwerk deutlich besser als ich. Kurz gesagt, nach einer Stunde verliessen wir den Laden um ein paar hundert Euro ärmer und 3 prall gefüllten Tüten, die wir noch 5 Stunden durch die Irrgärten der Souks schleppten, reicher, zumindest in der Gewissheit (oder Hoffnung?), ein gutes Werk getan zu haben. Zwei Eierbecher in Berberkeramik gab`s seltsamer Weise gratis als Abschiedsgeschenk.

Nicht nur in den engen, verwinkelten Gässchen der Medina drängen sich Fußgänger, Mopeds und Eselkarren umeinander, in den autobefahrbaren Straßen potenziert sich das Chaos. Das Erscheinen eines offensichtlich reichen „Berberbräutigams“ hoch zu Ross mit Gefolge in der rushhour bringt dieses Gewühl tatsächlich zum Erstarren. Auch hier ist „gesehen werden“ wichtig. Die Touris einschließlich uns feuern dankbar Fotosalven ab und auch die Einheimischen unterbrechen, zwar hupend oder rufend, aber doch mit feuchten Augen ihr emsiges Tun. (Wie wir später von den Jungs in der Wüste erfahren werden, ist eine Heirat nur möglich, wenn genug Geld zur Verfügung steht, um den ganzen Stamm oder das Dorf für mehrere Tage zu verköstigen, weshalb viele junge Männer lange sparen und deshalb spät heiraten oder sich für Jahre hoch verschulden.)

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Obwohl die alte rote Königsstadt (fast alle Gebäude sind in Terrakotta-Rottönen geputzt oder gestrichen) selbst im Februar von Touristen aus aller Welt überlaufen und alle damit verbundenen Nebenwirkungen ungeniert präsentiert, sind wir froh unsere Nase tief hineingesteckt zu haben. Marrakesch ist absolut sehenswert, und wären wir in der vielen Natur nicht so stadtverweichlicht hätten wir vermutlich noch größeres Vergnügen an dem verrückten Leben in dieser verrückten Stadt gehabt. So genügen uns 3 Nächte hier vollauf.

Zunächst führt der Weg weiter nach Süden über den Hohen Atlas. Noch frische Schneewälle säumen die Bergstraße, die erst vor wenigen Tagen wieder freigegeben wurde. Vielerorts werden mit schwerem Gerät die Schäden von Frost und Erdrutschen beseitigt. Die Berge sind atemberaubend schön, haben durchaus „Islandqualität“. Auf dem höchsten Pass Tizi n`Tichka legen wir in 2260 m Höhe ein Päuschen ein. Von den Souvenirständen mit Mineralien und Fossilien sieht man nur die oberen Regalbretter aus den Schneehaufen ragen. Sogar die Wüste soll seit etwa 50 Jahren wieder einmal Schnee gesehen haben. Der Betreiber des Cafés berichtet, wir seien die ersten Gäste seit 3 Wochen, gesellt sich zu uns, erzählt von seinem einfachen, aber freien Leben in den Bergen. Wenn keine Gäste kommen hat er mehr Zeit zum Rauchen und Banjospielen. Und zak, ist ein Stündchen rum. Hier ticken die Uhren gänzlich anders als in Arnakesch. Sein Kumpel aus dem Souvenirladen nebenan schenkt Anke einen kleinen Kettenanhänger mit „Fatimas Hand“, unerlässlich für die Fruchtbarkeit und die Abwehr des bösen Blicks und dämonischer Dschinns, der bösen Geister. Wir versprechen, auf der Rückfahrt ein paar Schachteln Zigaretten mitzubringen. Bergab eröffnet sich zwischen den braun-weißen Bergkuppen eine grandiose Weite bis zu den fernen, in allen Brauntönen schimmernden, schrundigen Erhebungen des Antiatlas. Die Bordfotografin erzwingt ein Vorankommen im stop-and-go-Modus.

Mehrere große Filmstudios haben der auf 1100 m Höhe zwischen Hohem und Antiatlas eingebetteten Stadt Ouarzazate zu Berühmtheit verholfen. (Hier wurden u.a. Monumentalstreifen wie Kundun, Gladiator, die Päpstin, Game of Thrones gedreht.) Der Empfehlung unserer Freunde Gila und Gunnar folgend haben wir 2 Nächte im „Le Temple Des Arts“ gebucht, sind der Verlockung auf 65 m² „SENIOR!!!- Suite“ (thematisch zum Scorses-Film „Kundun“ eingerichtet) erlegen. Es ist schließlich unsere Hochzeitsreise, und die Gattin wünscht eine Badewanne.

Der größere Teil der Stadt ist neu und uninteressant, die großartige Landschaft umher sowie die Altstadt um die große Kasbah dagegen sehr sehenswert. In der Kasbah überredet uns dann doch noch ein Guide, Mustafa, uns für lächerliche 2 € durch die Altstadt zu führen. Diese Begegnung entpuppt sich als Glückstreffer, wird sie doch den weiteren Verlauf unserer wunderbaren Reise bestimmen. Zunächst geht es durch die verwundenen und verwundeten Gänge und Tunnel des alten Ksar der Altstadt und wir besuchen „Couscousine“ und Berberfrau Jmiaa in ihrem versteckt liegenden, traumhaft schönen Riad „Rose Noire“. Natürlich gibt’s Tee zum Woher und Wohin und Warum. 20 Minuten später hält sie mir kurzerhand ihr Handy mit „Couscousin“ Mahjoub am anderen Ende ans Ohr, und die Wüstenplanung ist eingetütet.

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Der anschließende Besuch der alten unscheinbaren Synagoge ist höchst interessant. Ein Enkel des alten Rabbi, der dem Umsiedlungsempfehlen nach Israel Anfang der 50er nicht folgte und zum Islam konvertierte, hat aus der verfallenden Mellah (jüdisches Viertel in der Altstadt) alles Erdenkliche zusammengetragen, in die leerstehende Synagoge gepfercht und betreibt hier ein kleines jüdisches Museum. Offiziell Muslim, doch mit jüdischem Herzen, erzählt der junge Bursche flüsternd in fließendem Englisch die bewegende Geschichte seiner Familie, seine Sicht auf Gemeinsamkeiten und Gegensätzlichkeiten von Islam und Judentum. Gott ist allein das Herz des Menschen.

Der Führungschoreographie Mustafas musste nun wieder ein geschäftlicher Abschnitt folgen, der uns in den Laden der lokalen Kooperative führte. In den dunklen Zimmerchen empfangen uns 2 zipfelbemützte Muselmanen in Djellabahs und preisen ihre Ware. Bedürfnislos und kaufunwillig traten wir, aber das eine oder andere Blink-Blink-Mitbringsel, ein Fläschchen reines, kostbares (Anti-Aging-) Arganöl (aus 100 kg Früchten gewinnt man etwa 15 kg Samen, aus denen höchstens 1 Liter Öl gepresst werden kann, was durchaus einen Goldpreis rechtfertigt, oder?) und ein zu FreiKerls Persenning passender dunkelroter Gebetsteppich vom hauseigenen Webstuhl gehen immer. Wir verabreden uns zum Feierabend auf ein Gläschen Tee und fortführenden Gedankenaustausch auf ihrer Dachterrasse. Doch vorher leitet uns Mustafa noch zu Couscouscousine ins „Chez Sabrine“, und wir scheiden nach 3 gemeinsamen Stunden und einem köstlichen Kaffee. Er schwingt sich mit 2 x 2 € sichtlich zufrieden auf sein Moped und sammelt nun vermutlich die Tantiemen ein.

Im Gegensatz zu den Marrakesen sind die Ouarzazater völlig untertemperiert und sichtlich zufrieden mit ihrer tiefen Entspanntheit. Geld ist hier kein Grund die Schlagzahl zu erhöhen. Wie angenehm.

Am kommenden Morgen heißt es raus aus dem Luxus, auf in die Wüste, mit all ihren Entbehrungen. Wir rauschen in der Morgensonne durch das fruchtbare Tal des Draaflusses, dass den vor uns faszinierend schimmernd in der Morgensonne liegenden Antiatlas durchschneidet. Wie ein sattgrünes Lebensband poppt die endlose Kette der Oasen und Palmerien zwischen den gerölligen Bergketten auf. Unter die Dächer der Dattelpalmen ducken sich die lehmbraunen Häuser oder deren Überreste in die Schatten …

Hatte ich wohl schon vergessen: hier beginnt doch der Wüstentext vom vorangegangen Beitrag.

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Galerie Marrakesch:

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Galerie Hoher Atlas:

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Galerie Ouarzazate:

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